Es gibt einen Lyrikpreis auf Föhr. 2022 habe ich den gewonnen und aus diesem Anlass die Insel kennengelernt.
Schreiben heißt, im Kopf verreisen. Und manchmal buchstabiert sich aus der Phantasie ein richtiger Ort heraus. Meer. Flair. Föhr.
Der Verein Föhr erLesen hatte zum Dichten aufgerufen, die Insel durfte und sollte dabei gerne eine Rolle spielen. Das weckte meine Neugier. Seit meinem Stadtschreiberstipendium in Otterndorf ist mir die Nordseelandschaft wohl vertraut, Föhr hatte ich allerdings noch nie besucht. Ich tastete mich über Webcams und digitale Karten und sah es vor mir, das kleine Eiland, föhrlich fröhlich erhaben über die stürmische See. Ich dachte mir dort Sonnenauf- und -untergang, Watt und Weite, schon war das Wort Lichterkitzeln geboren und mit ihm ein Gedicht, das ich in den Norden schickte.
Nachdem ich die Insel bedichtet hatte, wollte ich sie mir auch in Realität ansehen, na klar. Kaum, dass ich die Föhr-Fähre gebucht hatte, erhielt ich allerdings den Anruf: Mein Gedicht habe beim Wettbewerb den ersten Platz gewonnen!
Yeah!
Das machte den Besuch nun doppelt interessant. Es schien sowieso unmöglich, dass ich 60 Jahre gelebt hatte, ohne diese Region zu kennen. Erwähnte ich das Eiland gegenüber meinen Freunden und Bekannten, hieß es unisono: Da ist es schön. Offensichtlich war jeder schon einmal da. Und wer einmal da war, fuhr wieder hin.
Die Buchmesse war im September 2022 und gemeinsam mit meinem Partner wohnte ich neben Storchennestern in Wyk, lernte den Verein Elmeere kennen, die engagierten Buchmesse-Menschen und die jungen Schüler, die sich ebenfalls mit ihren Texten einem Wettbewerb gestellt hatten. Nebenher föhrten mein Freund und ich mit dem Föhrrad einmal rund um die Insel und begegneten bei Strandspaziergängen, dem Vielwettergesicht der Insel.
Die Siegerehrung war eine liebevoll organisierte Föhranstaltung und nebst einem wunderhübschen Pokal gewann ich einen weiteren Aufenthalt auf der Insel.
Einmal Föhr, zweimal Föhr, so ist das eben. Sogar diejenigen, die einst in die USA ausgewandert sind, um dort Geld zu verdienen, kamen später gerne wieder auf das kleine Eiland zurück. Das große Glück braucht eben manchmal nur einen kleinen Platz.
Für meinen Zweitbesuch wählte ich den Monat März und bekam eine entzückende Ferienwohnung in Wrixum gestellt, um nun auf ein Neues die Insel zu erkunden.
Zwölf Kilometer lang, kaum sieben breit und ohne nennenswerte Erhebungen, das ist überschaubar. Aber auf diesen 82,82 Quadratkilometern gibt es im Frühjahr Schnee, Regen, Sonne, Nebel und Wind in allen möglichen Kombinationen, es wird nicht langweilig.
Diese Föhreszeiten wechseln binnen Stunden oder Minuten, so dass ich vom (fast) Summer feeling bis zum Wintersturm alles einmal beschnuppern konnte. Wann immer ich die Wohnung verließ, hatte sich die Welt verändert. Das weite Grasland versank in Nebelschwaden oder glitzerte Grün im Morgenlicht, die Windmühlenflügel lagen als schwarzer Kontrast vor blauem Himmel oder waren weiß bezuckert. Nur die Reet-gedeckten Friesenhäuser sahen irgendwie immer freundlich aus.
Eine Besonderheit der Orte ist übrigens, dass ein Straßenname oft für die ganze Siedlung reicht. Die Nummerierung der Häuser verläuft dabei nach einem System, das sich mir bis zuletzt nicht ganz erschloss. Ich plante also immer ein bisschen Zeit ein, um im Zickzack ein Dorf zu durchlaufen bis ich auf die gesuchte Adresse stieß. Eine Klingel fand ich dann auch nicht unbedingt. „Brauchen wir hier nicht“, lächelte die Tierärztin Wibke Vollandt freundlich. Und ich begriff so langsam wie es ist auf der Insel zu leben, einfach die Menschen zu kennen und nicht irgendwelche Nummern.
Als ich zur verabredeten Zeit vor den Toren der Tierärztin in Toftum stand, erwartete mich dort ein Huhn. Wibke teilte telefonisch mit, dass sie gerade noch einen Einsatz habe. Das ist nun sehr anders als im Ruhrgebiet, wo eine Tour in die Nachbar-City inclusive Stau auf der Autobahn locker eine Stunde dauern würde. Stattdessen war Wibke fünf Minuten später vor Ort. Wer auf der Insel ist, hat es einfach niemals weit irgendwohin. Und wenn Stefans Tortenmanufaktur mit den Worten „Kommt raus nach Utersum“ um Personal wirbt, heißt das nicht, dass die köstlichen Tortenkreationen nur per Hochseedampfer zu erreichen sind. Vielmehr meint „draußen in Utersum“, dass es zwölf Kilometer vom Hafen und damit von der Stadt zu den Torten sind. Wenn ich mich da im Ruhrpott umsehe, gibt es wahrscheinlich wenige Menschen, die so einen kurzen Weg zur Arbeit haben.
Ich war allerdings dann erstmal in Toftum und durfte Wibke und ihren dreibeinigen Hund in den Stall begleiten, wo die Tierärztin einen Gnadenhof aufgebaut hat für Schaf, Kalb, Gans, Huhn und Pferd. Und obwohl dieser Ort sicher ein besonderer ist, zeigt sich auch damit das Gesicht der Föhringer: Hier darfst du sein. Mit manchen Einschränkungen müssen Mensch und Tier auf der Insel leben, dafür beschenkt sie einen auf der anderen mit föhrlichem Leben und gutem Zusammenhalt,
Am zweiten Tag hatte ich einen Termin beim Friiskfunk, einem Radio-Projekt der Ferringstiftung, die sich für die friesische Identität und Sprache einsetzt.
Früher gab es sogar zwei Dialekte auf der Insel. Das macht noch einmal deutlich, wie anders das Leben war, als weder Internet noch Reisetätigkeit die Entfernungen so leicht überbrückten. Wenn eine steife Brise weht, ist so ein Föhrometer allerdings auch heute noch kaum mit einem Kilometer identisch. Das ist schon sehr anders, als mit der U-Bahn in Berlin.
Apropos, mancher auf Föhr geborene war zwischendrin in der Hauptstadt oder einer anderen City. Und kommt zurück. Aus Liebe zum Land, zu einem Partner oder beides. Das ist ja kein schlechtes Startkapital, so eine Liebe.
Was ich übrigens gleich am Föhresleben geliebt habe, ist das Rufen der Gänse, das wie eine gleichmäßige Musik über dem Grasland liegt.
Für die Bauern ist dieses Federvieh allerdings nicht ganz so erfreulich. Sie machen keinen Halt vor landwirtschaftlichen Bereichen, fressen, was der Landwirt ernten möchte und erzeugen beträchtliche Hinterlassenschaften. Hier heißt es eine Balance zu finden, was für unsere Welt überhaupt und diese Insel im Besonderen von großer Bedeutung ist.
Das gilt auch für den Tourismus, der mittlerweile die wichtigste Einnahmequelle der Insel darstellt. Vor allem im Sommer, wenn die idyllischen Sandstrände zum Wassersport locken, wird die Insel plötzlich von Bewohnern statt Einwohnern in Besitz genommen, was verständlicherweise nicht nur auf Freunde trifft.
Auch sind die mitunter pompösen Friesenbauten nur für ein sehr ausgewähltes Klientel finanzierbar, bezahlbarer Wohnraum dagegen ist knapp wie überall. Überhaupt ist vieles gar nicht so anders als sonst in Nordfriesland. „In der Stadt lebt schließlich auch jeder nur in seinem Kiez“, bringt es Heike Volkerts vom FriiskFunk auf den Punkt. Und letztlich gibt es alles genauso auf der Insel wie auf dem Festland, vom Fitnessstudio bis zur (Fahr)-Schule, von der Bücherei bis zum Supermarkt, vom Cafe bis zur Pizzeria.
Nur Marder und Füchse leben hier nicht, weshalb die Kaninchen und Hühner in den Gärten recht sorglos sind. Genauso wie die Zweibeiner, die eher selten mit Diebstahl, Mord und Totschlag zu tun haben. Es sei denn in den Krimis der AutorInnen, die Föhr als Kulisse gewählt haben. Im Inselboten, der lokalen Zeitung, finden sich jedenfalls erfrischend wenig Berichte über grausame Delikte, stattdessen liest man von Rehen, die im Stadtgarten ihr Unwesen treiben oder einer Wattwerkstadt für Kinder.
Statt mittels Zeitung können sich Interessierte aber auch per Inselradio inföhrmieren. In einzelnen Podcasts sendet das ehrenamtliche Team Berichtenswertes über die Insel und vor allem ihre Menschen. Die sind vielfach sehr fleißig wie mir scheint und das ist sicher auch ein Grund, warum die Insel für die Föhringer nie zu klein ist. Wer einen Hof bewirtschaftet, Inselkäse herstellt (sehr lecker!), Ferienwohnungen betreut, im Naturschutz aktiv ist, Kräuterwanderungen anbietet, oder Asthmapatienten betreut, oft auch mehreres davon zugleich, der ist auch ohne große Ausflüge mehr als ausgelastet. „Sieben Tage die Woche Dienst“, sagt Wibke, aber macht auch deutlich, dass ihr der volle Einsatz gefällt. Im Stress ist trotzdem scheinbar niemand hier, jedenfalls Anfang März nicht, wenn die meisten Geschäfte um 17 Uhr schließen, falls sie überhaupt geöffnet haben.
Ich fand es für mich aber auch erstaunlich, wie schnell ich mich an diesen Rhythmus gewöhnt habe. Während ich in Bochum meistens erst um 22 Uhr einkaufe, habe ich um diese Zeit den Blick zum Sternenhimmel genossen.
Nett war es auch an einem Morgen, als ich den Gang zum Bäcker ausdehnte und die kleinen Steinmauerwege durch das Dorf abschritt.
Als ich aus dem Gartentor trat, begegnete mir eine Frau mit eher verschlafenem Blick. Kaum dass ich in den Pfad an der nächsten Ecke einbog, kam sie mir wieder entgegen, sah mich nun schon etwas aufmerksamer an. Als sich unsere Wege abermals kreuzten, weil sie wie ich, einmal durch das Dorf spazierte, nun andersherum, sahen wir uns etwas staunend an.
Schließlich trafen wir dann vor der Tür von Bäcker Hansen erneut aufeinander und mussten herzlich lachen.
So ist das eben dort, Sturm-umtost und einsam, aber alle Wege föhren irgendwie zueinander.
Eine Insel ist etwas inmitten von etwas anderem,
allein.
Ein Ufer ist der Grenzbereich,
wo sich das Eine und das Andere begegnen.
Begegnung bedeutet Veränderung.
(Aus „Nestel“, Roman, SalonLiteraturVerlag)
Demnächst: 24. Oktober 2023, 19 Uhr, zum Tag der Bibliotheken Lesung in Wattenscheid, mit Musik von Wolfgang Bachmann Leider schon verpasst 21. Januar 2023 um 16;30 Uhr, Lichtspuren zwischen Isar und Ruhr, Kunst...
Im Herbst 2022 habe ich den Lyrikpreis Föhr gewonnen. Deswegen war ich Anfang März 2023 nach Föhr eingeladen! Mein Bericht dazu findet sich hier http://www.vigli.de/index.php/textarbeit/vigli-auf-foehr Mein Text "Schwimmen" über fünf Freunde…
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