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Lebensalter minus 10

Lebensalter minus 10

Laufen ist viel mehr, als einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das haben wir gerade kürzlich beim Günni-Lauftreff besprochen, der so heißt, weil es einen Günni gibt, der jeden Samstag um 8:30 Uhr zum Laufen einlädt. Also nicht zur Party, zum Frühstück, zum Wein trinken, sondern zu einer 10 bis 15 km langen Laufrunde. Und es funktioniert: GuennisBei jedem Wetter findet sich eine Horde Laufwilliger ein und ist überzeugt: Es gibt überhaupt keinen besseren Anfang für das Wochenende als zu laufen. Manchmal unterhalten wir uns, erzählen Wichtiges und Unwichtiges.

Manchmal rennen wir um die Wette, fordern uns heraus, schwitzen und bleiben dann irgendwo stehen, um ein Foto zu machen. Und auf jedem dieser Bilder ist zu sehen: Das Leben ist gut.

Gestern war ich also auch mit den Günnis unterwegs und weil es so ein phänomenaler Frühlingstag war, bin ich dann noch mit einem Frank (das sind die wunderbaren Menschen aus meinem Triathlonverein) zu einer Zusatzrunde abgebogen, hatte am Schluss 18 km auf der Uhr und das beste von der Welt gesehen. HuegelblickWeil es dann immer noch nicht regnete, wie sie prophezeit hatten, bin ich nachmittags noch auf dem Fahrrad herum gegondelt, habe weitere Franks und Günnis getroffen, weil die immer da sind, wo die Welt schön ist.

Und nun ist Sonntag, 10-Kilometer- Lauf am Kemnader See. Vor solchen Ereignissen soll man sich ausruhen. Aber nun, hätte ich, um im Wettkampf vielleicht eine Minute schneller zu laufen, auf so einen weltbesten Samstag verzichten sollen ? Eben.

Ich radele also frohgemut zum Start und sage mir, mal gucken, was kommt. Und da kommen vor allem viele Bekannte. Laufen hat eben etwas mit Leute kennen zu tun. Wer Mal zu Nikolaus in strömendem Regen gerannt ist, wer bei Gewitter zusammen unter einer Brücke stand oder an einem heißen Sommertag das Wasser geteilt hat, der vergisst sich nicht wieder. Namen merke ich mir nicht unbedingt (Günnis und Franks eben ;-)), aber die Gesichter und vor allem die Stimme, einzelne Sätze, die irgendwo in einem Laufmoment in ein weich geschwitztes Gehirn sinken wie Musik.
Wenn 100 km laufen, dann hier. (an der Ruhr)
Pizza mit Pommes. (nachts beim 24-Stundenlauf)
Kann ich die Banane haben? (nein!)
Wir laufen das Datum, machst du mit? (Ja)

Und heute am See treffe ich einen Wegbegleiter, den ich schon länger nicht gesehen habe. Das macht aber nichts, es ist einfach immer sofort so, als hätte man gerade die letzte Nacht zusammen durchgemacht. Schließlich haben wir auch alle kurze Hosen und Hemden an.

„Meine Challenge ist es, die zehn Kilometer immer in einer Zeit zu laufen, die meinem Lebensalter in Minuten entspricht oder schneller.“

Laufen ist eben nicht bloß laufen, es ist Challenge, es ist Spiel. Jeder nach seinen Regeln

„Ok,“ rechne ich das Spiel für mich um, „dann muss ich heute kurz unter 62 Minuten laufen.“

„Nein, für dich minus 10!“ sagt der Nicht-Günni-Nicht-Frank. Na, lass ihn reden, denke ich mir und reihe mich in das Starterfeld ein.

Kurze Ansprache, es riecht nach Mensch und Frühling, der Startschuss.

Das ist das Schöne bei so einem Lauf, es gibt einen klaren Anfang, ein Ziel und dazwischen einfach nur laufen. Alles rüttelt sich dabei zurecht. Wenige Aufgaben im Leben sind so leicht zu lösen, selbst wenn man sich dafür anstrengen muss.

Ich sehe den See, das Glitzern, konzentriere mich auf meine Schritte, denke, dass ich vor allem nicht stolpern sollte, Meine Gehirnerschütterung liegt gerade fünf Wochen zurück. So ist das eben, stürzen, aufstehen, Krönchen richten, neuer Anlauf.

Immer im Leben. Beim Laufen lässt sich das wunderbar üben.

Es ist warm, ich freue mich schon bei Kilometer zwei auf die Wasserstelle.

Doch ich werde dann ganz anders gelabt: die Günnis und Franks stehen allenthalben an der Strecke.

Daumen hoch, lächeln, Fotos. „Super!“ rufen sie. So viel Applaus dafür, dass ich einen Schritt vor den anderen setze. Aber es ist eben mehr als das. Kürzlich waren wir alle zusammen auf einer Beerdigung. Einer fehlt in unseren Reihen. Und ist trotzdem dabei.

Applaus, Daumen hoch. Es fühlt sich an, als werde ich die ganze Runde getragen. Fast bin ich so gerührt, dass mir die Luft weg bleibt oder bin ich zu schnell? Ich sehe auf die Uhr und denke „Lebensalter minus 10“, beschleunige, falle zurück, schwitze. Der Bekannte überholt mich, sagt „Lebensalter minus 10“. Ich sehe nicht auf die Uhr, 53 Minuten sind doch auch in Ordnung. Einfach laufen.

Startnummer nach vorne, der Zielbogen in Sichtweite. Ich habe Reserven für einen kleinen Endspurt, da rennt ein kleines Mädchen auf die Laufstrecke, ich schreie, weiche gerade noch aus. Es ist ein Abenteuer, bis zum Schluss.

Im Ziel stehen Franks und Günnis und ich kann meine Wertsachen an der Kuchentheke abholen, weil da, na klar, beste Menschen mein Gedöns bewacht haben. Es gibt Muffins, Kaffee. Familienfest. Die Sonne scheint, ich brauche nicht einmal ein neues T-Shirt, alles trocknet sofort. Überall gibt es viel zu erzählen. Eine Stunde, was ist schon eine Stunde.

Wer läuft, der weiß, das ist ein ganzes Leben.

Meine Franks und Frankines stehen reihenweise auf dem Treppchen.

Vor fünf Jahren war ich das letzte Mal auf selber Strecke dabei, da war ich dritte von sieben Teilnehmerinnen in meiner Altersklasse. Heute bin ich ca 90 Sekunden langsamer als damals und bin erste von vier. Dabei sein ist alles. Meine Arbeitskollegin, die hier Veranstalterin ist, gratuliert mir, es gibt eine Urkunde, ein T-Shirt und dann bin ich 5 Sekunden lang die Nummer 1 auf dem Podest.

51:58 Minuten steht auf der Urkunde. Lebensalter minus 10, na klar. Und das freut mich jetzt noch mehr als der erste Platz.

Da hat mir einer eine Aufgabe gegeben, die ich lösen konnte. Punktgenau.

“Wo arbeitest du eigentlich“ fragt eine und plötzlich sind wir im Gespräch über gemeinsame Aufgaben, einfach so, mitten auf der Wiese, im verschwitzten T-Shirt, unterbrochen vom Applaus, den wir all den Siegern zollen. So ist das beim Laufen, wir haben uns immer was zu sagen.

„Bist du zufrieden?“ erkundigt sich ein anderer. „Na klar und wie“, antworte ich strahlend, „Ich bin mein Lebensalter minus 10 gelaufen.“ Er versteht nicht, aber das macht nichts. So ist da beim Laufen.

„Machen wir noch ein Foto“, sagt jemand und wir machen 1000 Bilder von 1000 schönen Augenblicken. So ist das beim Laufen.

VIGLi 7.5.2023