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Die Raketenschnecke

Die Raketenschnecke

Ziele sind wichtig, als Traum, als Richtung im Leben, als Motivation. Wie so ein Traumziel aussehen soll, muss jeder selbst entscheiden. Wer läuft, hat da besonders viel Auswahl. Wilde Strecken in den Bergen, Marathon, rückwärts laufen.Schnecke
Oder sich eine Urkunde mit Raketenschnecke verdienen.

Diese Schnecke war in Otterndorf gestartet, wo das Team Thomas und Thomas bei einem Bier auf die Idee kam, man könnte einmal um den Sportplatz laufen und am nächsten Tag zwei Mal. Und dann drei Mal. Der Otterndorfer Fitness Booster war geboren.

Hätten die beiden Booster-Boys ein bisschen gerechnet, wäre ihnen klar geworden, dass sie dann im Februar stolze 162,4 km abspulen mussten, wenn sie jeden Tag eine weitere 400-Meterrunde anhängen wollten. Was ja nicht so ganz ohne ist, wenn man nach der weihnachtlichen Schokoladenpause wieder in Form kommen will.

Aber stattdessen hat der eine Booster-Boy eine Schnecke mit Düsenantrieb auf einer Urkunde konstruiert und da wusste ich sofort: die muss ich haben. Das verstehen vielleicht nur Laufbegeisterte, dass nicht Geld und Ruhm wichtig sind, sondern so ein kleines besonderes Erinnermich. Ob das eine Medaille oder eine Urkunde ist, das ist dabei nicht wirklich von Bedeutung. Worum es geht, das ist diese Einzigartigkeit. Weil dieses Ding uns erinnern soll, an die Stunden im Schweiß, an den Spaß, an die ganz speziellen Momente.

Diese Schnecke hat also meinen ganzen Februar unter neue Vorzeichen gestellt.

So gerne ich auch renne, täglich steht das eigentlich nicht für mich im Kalender. Schon gar nicht im Februar, wo es ja meistens nochmal so richtig kalt wird.

Und es war eisigkalt.

Die ersten Tage waren eigentlich noch keine Herausforderung. 400 Meter laufen. 800 Meter. Dafür brauchte ich weder einen Sportplatz noch eine Jogginghose. Trotzdem war da etwas plötzlich ganz anders, so als hätte sich die kleine bunte Schnecke in meine Gehirnwindungen gesetzt und dort die Gedanken gesteuert: „Na, wo rennst du denn heute?“

800 Meter in der Mittagspause.

„Und wie erklärst du dann deinen Kollegen, dass du sie plötzlich stehen lassen musst?“

Es bedurfte also doch einer gewissen Vorbereitung. Die ersten 400 Meter erledigte ich auf meinem Weg zum Zahnarzt, mit Einkaufstüte in der Hand und in Winterstiefeln. Wer mich sah, dachte eben, ich hätte es eilig. Dabei war ich dann 5 Minuten zu früh beim Termin. Drei Mal die Woche schnüre ich normalerweise sowieso die Laufschuhe. Aber die Tage dazwischen, waren nun auf einmal auch Lauftage. Und die Winterstiefelstrecken waren schnell Geschichte.

Nach 8 Tagen waren 3,2 km bereits Pflicht. Für Laufanfänger wird es dann wirklich ernst und auch ich komme dann durchaus ins Schwitzen, auch wenn ich keine Geschwindigkeitsvorgaben zu erfüllen hatte.

Es war schließlich eine Schneckenurkunde.
Wenn ich mich mit meinen Franks und Günnis zum Laufen traf, hieß es im Februar statt „Hallo“,“Wieviel musst du heute laufen?“ und immer, wenn der Pflichtteil erledigt war, jubelte ich „Jetzt bin ich fre!i“.

So kam dann der ein oder andere weitere Kilometer dazu, denn 10.000 Meter zu laufen ist deutlich schöner als drei, da haben wir einfach mehr Zeit zu quatschen und zu sehen gibt es auch mehr.

Irgendwann waren dann 5 km dran und mein Tagesplan unpassender Weise mit Terminen übersät wie ein Backblech mit Keksen. Aber die Schnecke in meinem Kopf, hatte bald eine Idee, wie sich eine Laufpause herausknabbern ließ. „Willst du wirklich die ganze Videokonferenz dabei sein? Mach doch erstmal den Bildschirm aus….“

Ich schlich mich also zum Ausgang des Büros und startete meine Uhr, kaum, dass ich im Freien war. In Jeans und Pullover rannte ich in den nahen Park, immerhin hatte ich diesmal Turnschuhe an. Nach 30 Minuten war ich zurück, prüfte kurz, ob das Video wirklich ausgeschaltet war, ehe ich mein verschwitztes T-Shirt gegen ein trockenes tauschte und war im nächsten Moment wieder voll in der Diskussion.

Das ist schließlich das schöne am Laufen, was macht den Kopf frei und schärft alle Sinne.

Alltäglich mussten wir Booster-Teilnehmer unsere Kilometer in eine virtuelle Liste eintragen und da konnten wir dann sehen, wer noch dabei war. Abends ließ sich ablesen wer „vollständig geboostert“ war und wer aus der Liste verschwand. Die Teilnehmer wurden weniger, die Kilometer mehr. Wir liefen und liefen. Wenn der eine gerade nur wenige Kilometer eintrug, hatte der andere etwas mehr . So kam unser Booster-Team unermüdlich voran. Wir Februarschnecken teilten Fotos und die kleinen Punkte in einer Zeile, die sagten: Ja, ich war auch draußen, ich bin mit dir unterwegs, auch wenn wir uns gerade nicht sehen.

Ich rannte abends im Dunkeln und morgens bei bissiger Kälte, ich lief durch strömenden Regen und mittags im frühlingswarmen Sonnenschein. Ich rannte morgens um sechs zum Schwimmbad und hörte abends die Kraniche, die sich nach Norden aufmachten. Ich rutschte über vereiste Pfützen und bemerkte, wie Schneeglöckchen und Krokusse auftauchten.

9017 km haben wir alle zusammen geschafft. Da hätten wir auch in den Senegal laufen können, mit Umwegen und wieder zurück. Aber was will ich da, wo doch die Abenteuer vor der Haustür liegen.

Am letzten Sonntag des Februars hatte ich das eigentliche Schneckenziel von 10,4 km sehr großzügig aufgerundet auf 22 km, weil ich mir plötzlich einbildete, dass ich an diesem Sonntag 250 km in der Boosterliste erreichen wollte. Deswegen bin ich nach einer wunderschönen Tour über Trassen und Felder am Schluss noch zwei Mal um den Block gelaufen. Dabei wurde ich von einem Hundespaziergänger kritisch beäugt. Was sind das nur für Menschen, die mit Rucksack eine Straße auf und ab laufen?, muss er gedacht haben. Das verstehen eben nur Rennschneckenkenner, Booster-Boys oder meine Lieblingsschlümpfe aus dem Verein, die für eine Langdistanz auch nicht mehr als ein kleines Wiesental brauchen.UrkundeSchnecke

Die letzten zwei Tage nahten und ich beschloss, dass es wenigstens 280 km auf meiner Urkunde sein sollten. Also musste ich noch zwei Mal 15 km laufen. Weil ich dann beim Sonnenuntergangsgucken den Weg verloren habe und draußen sowieso immer Ungewöhnliches passiert, sind es nun sogar 284 zertifizierte Kilometer geworden, unterzeichnet von den zwei Booster-Boys.

Und die kleine bunte Raketen-Schnecke grinst vergnügt. Vielleicht, weil sie mit meinem Februar zufrieden ist. Weil es ihr gefallen hat, zwischen Eis, Regen, Sonne und Videokonferenz. Oder doch eher, weil ich ihr von der Pizza Amore am letzten Booster-Tag etwas abgegeben habe.

Das hat sie sich aber auch wirklich verdient.

VIGLi, vollständig geboostert Februar 2023