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Turnschuhe im Kopf

Turnschuhe im Kopf

„Tragen sie Zahnprothesen?“ Nein.

„Haben sie einen Organspendeausweis?“ Ja, antworte ich und denke, bevor ich meine Organe spende, habe ich aber noch ein bisschen was vor.

Zum Beispiel essen.

Ich bin zuvor 70 km geradelt mit 700 Höhenmetern und das bei zum Teil sehr kaltem Gegenwind. Aber statt in einer Pizzeria bin ich zum Abschluss in der siebten Etage vom Unfallkrankenhaus gelandet. Super Aussicht, für so etwas zahlen andere Eintritt, nur ich habe es mit dem Kopf durch die Wand geschafft.

Die Tour hatte von Anfang an einen Haken, ich wollte bei Sonne fahren, aber als die bis 12 Uhr nicht erschien, zog ich mich einfach warm an. Das hat mir zuletzt wohl auch ein paar Schürfwunden erspart.

Zunächst ging es zum Brötchen holen, da hatte ich dann schon 18 km auf dem Tacho, denn ich nehme nicht jede Bäckerei. Mindestens muss ich vorher einmal an der Ruhr gewesen sein, die derzeit in Dahlhausen wieder alle Tourismuspfade vereinnahmt. Wer sich im Frühjahr dort fortbewegen will, sollte Sportschwimmer sein oder Umwege kennen. Ich staune immer wieder, wie die alt bekannten Leinpfade den Enten und Schwänen übereignet werden. Als nächstes Etappenziel hatte ich Sprockhövel, von dort wäre es nicht so weit nach Hause gewesen. Aber die Sonne schien immer noch nicht und eine kurze kalte Tour schien mir keine Option. Irgendwann musste die angesagte Sonne doch auftauchen. Also tippte ich Herdecke in mein Navigationsgerät, denn ohne dass mir jemand diese Strecke ansagte, wäre ich sie nicht freiwillig gefahren. Es ging über die sieben Berge, wobei ich der einzige Zwerg war, der es dort mit den Höhenmetern aufnahm. Hin und wieder traf ich Wanderer und zeitweise tat ich es ihnen gleich, da hatte ich wenigstens wieder warme Füße und Fahrrad schieben ist gut für die Armmuskeln. Irgendwann hatte ich dann Bommern, Heierberg und Witten hinter mir gelassen, mein Ziel Herdecke fest im Blick. Frühlingsmarkt. Alle Menschen, die ich unterwegs nicht getroffen hatte, flanierten dort. Es schien, als hätte sich das ganze Ruhrgebiet versammelt. Deswegen nahm ich Abstand von einer langen Verpflegungspause, immerhin eine Waffel mit Cappuccino eroberte ich noch, dann ging es zurück auf den Radweg.

Rückenwind trieb mich an, die Sonne kam nun endlich heraus und ich lichtete die Fähre, die nicht fuhr und andere Highlights entlang der Stecke ab. Am Kemnader See erwog ich noch eine Kaffeepause, weil meine Apfelschorle so kalt war, dass ich sie lieber spazieren fuhr, als sie zu trinken.

Aber was sollte das schon, so kurz vor zu Hause, lieber trat ich noch etwas flotter in die Pedale, die etwas zähe Steigung durchs Lottental hinauf.

Gedanklich war ich schon bei den Nudeln mit Tomatensoße, als ich in den kleinen Park einbog.

Danach habe ich einen Filmriss.

Andere brauchen dafür eine Nacht in der Kneipe, ich habe es mit Sprung vom Sattel geschafft, wobei ich offensichtlich mit dem Kopf gebremst habe. Wie immer hatte ich einen Helm auf, sonst gäbe es jetzt diesen Bericht nicht mehr.

Als nächstes saß ich auf einer Bank und mir war schlecht. Während ich erbrach sicherte ich den Track auf meiner Sportuhr. Man kann in solchen Momenten viel über sein Gehirn lernen. Diese Uhr besaß ich erst zwei Wochen und ich hatte mich intensiv damit befasst, ihre Funktionen kennenzulernen. Der Schlag auf dem Kopf hatte zwar den Unfall gelöscht (wer braucht sowas auch schon in seinem Gehirn) aber nicht die Bedienung meiner Uhr. Nun hätten mich also theoretisch alle meine online verbundenen Freunde finden können, aber die waren natürlich selbst unterwegs an diesem sonnigen Frühlingstag. Aber irgendwo muss es ja einen Engel geben, der mir immer einen Frank-Schlumpf an die Seite gibt und so auch diesmal. Aus dem Nirwana meines verschwommenen Blicks erkannte ich einen meiner Franks (=Vereinskameraden). Wie ich später erfuhr, hatte er sich da bereits eine Zeitlang mit mir unterhalten, wobei ich mich anscheinend hauptsächlich für die Kilometerzahl auf meinem Tacho interessierte. Es ist ja schön, wenn in solchen Dunkelstunden keine schlechteren Charakterzüge, als eine gewisse Zahlenfixiertheit sichtbar werden.Ansonsten war er auf dem nassen Laub, das mich zu Fall gebracht hatte auch noch fast ausgerutscht. Davon habe ich jedoch nichts mitbekommen.

Mein eigentliches Problem war, dass ich weder den Wochentag noch meine schöne Tour erinnerte. So sehr wie alles schwankte, hätte ich auch auf einem Schiff sein können.

Die Frau des Ersthelfers meinte später, sie hätte sich gewundert, dass ich nach dem Sturz erstmal so lange gar nichts gesagt hätte, und da hat sie natürlich Recht, als geborene Quasselstrippe braucht es dafür schon einen ordentlichen Knockout Mechanismus.

Aber letztlich konnte ich mich entspannen, der Frank hatte alles im Griff, auch mein Fahrrad, das nicht mit in den Rettungswagen durfte. Dann musste ich rückwärts fahren, was mir selbst mit nicht zerbumsten Kopf schlecht bekommt. „Hätte der Rettungswagen doch rückwärts fahren können“, schlug mein Freund hinterher vor. Aber das ist wohl selbst mit Blaulicht nicht vorgesehen. Stattdessen wurde ich auch noch rückwärts in das CT geschoben und wenn mir einer gesagt hätte, wir sind gerade auf der Überfahrt nach Helgoland bei Windstärke 8 hätte ich das auch geglaubt. Bis ein Arzt kam, der mir etwas gegen Reiseübelkeit spritzte. Dann endlich war ich in der Lage die Nachrichten auf meinem Handy zu lesen, die dort schon zahlreich aufploppten. Denn von BamBam bis Schlumpfine waren alle informiert und boten ihre Hilfe an. Als mich der Arzt später fragte, ob ich denn zu Hause Betreuung hätte, antwortete ich deshalb auch nicht, dass mein Partner gerade 400 km entfernt ist, sondern nur: Ich habe einen Verein.

Vorerst wollten mich die Ärzte aber nicht dem blau-weißen Schlumpf-Frank-Verein überlassen, sondern mich bis zum nächsten Tag überwachen. Ob ich Doppelbilder sehen würde und Schmerzen hätte, wurde ich gefragt, aber ich hatte nun bloß noch Hunger und hoffte, dass es für mein All-inclusive Armband mit dem ich numeriert worden war, auch ein ordentliches Buffet gab.. Gehirnzellen sind immerhin die größten Energieräuber schlechthin und meine mussten sich gerade alle neu sortieren. Obwohl es schon spät war, trieb die Krankenschwester noch vier Scheiben Brot für mich auf. Ich war glücklich und hatte nur die ganze Nacht Angst, man könne mir die köstlichen Kalorien wieder wegnehmen, weil ich in meinem benommen Zustand immer nur kleine Brocken in mich hinein mümmeln konnte. Tatsächlich kam alle zwei Stunden entweder ein Arzt oder eine Pflegerin vorbei, schaltete das Licht an, stellte sich mit Namen vor und fragte, ob sie den Teller mitnehmen könnten. Ich war nahe daran, das Brot unter meiner Bettdecke zu verstecken, aber vielleicht hätten sie mir dann kein gesundes Gehirn attestiert. Nachts um halb vier hatte ich dann endlich alles aufgegessen. Im Entlassungsbericht heißt das auf Arztdeutsch „Der vorsichtige Kostaufbau gelang problemlos“.

Zum Glück gab es dann auch bald Frühstück und währenddessen konnte ich den Sonnenaufgang über Bochum genießen. Mein Freund fragte an, was sie denn im CT gesehen hätten, ein Gehirn könnte das doch kaum sein und ich stellte mir vor, dass unter meiner Schädeldecke vielleicht lauter Rennräder spazieren fahren oder Turnschuhe trappeln, Es fühlte sich immerhin so an, als ob da immerzu einer gegen meine Stirn trat. Ein Frank meinte dann zur Diagnose „Commotio cerebri“ mit entspanntem Kopfnicken „Jaja, also verwirrt wie immer.“, packte meine Tasche und begleitete mich nach Hause.

Ich konnte mich also wieder bedenkenlos von der Überwachung der Klinik in die meiner Franks begeben.
Mein Hausarzt, der mich schon ziemlich lange kennt, erklärte mir dann noch, was es heißt, sich die nächsten Tage zu schonen. Keinen Marathon laufen zum Beispiel, auch wenn die Füße noch dran sind. Und nicht den ganzen Tag am Computer sitzen. Einfach chillen.

Also liege ich erstmal auf der Couch und stelle mir vor wie die Turnschuhe in meinem Kopf ihre Schnürsenkel ausbreiten und sich alle miteinander verknoten oder wie sich Tartanbahnen zu Biskuitrollen aufrollen oder Familie Feuerstein mit den Schlümpfen tanzt oder ...

Vielleicht ist es doch besser für mein Gehirn, ich gehe wenigstens spazieren. Und freue mich, dass es meine Franks gibt. Und mich auch noch.

4. April 2023