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Mit dem Einhorn auf der Alb

Mit dem Einhorn auf der Alb

1200 Höhenmeter auf 50 Kilometer ist ja eigentlich nicht so viel, sagte mein Freundin. Da konnte ich kaum widersprechen. Hätte man die 1200 Höhenmeter gar auf 100 oder 200 Kilometer verteilt, wäre es ein nahezu flacher Spaziergang geworden, nur eben ein bisschen lang. Aber 50 Kilometer sind in jedem Fall 50 Kilometer, ob mit oder ohne Berg. Und wie es in Wirklichkeit ist, das weiß der oder die Laufbegeisterte eben erst, wenn er wirklich da war:

Beim Schwäbischen Albmarathon.

Eine Veranstaltung, die mit ihrem Namen klares Understatement betreibt, denn es ist ein waschechter Ultra.

Von diesem Lauf gehört hatte ich schon viel, einzig die weite Anreise aus dem Ruhrpott hielt mich immer wieder ab. Dabei haben es schon 1919 die berühmten Gussstahlglocken von Bochum nach Schwäbisch Gmünd geschafft, um auf dem Rechberg zu läuten und ein Exemplar hält dort immer noch die Stellung.

Außerdem hat Mensch mit 62 Jahren nicht mehr so viel Zeit auf gute Gelegenheiten zu warten, deswegen meldete ich mich nach einem Probelauf durch die Ruhrpott-Hügel frohgemut für die drei Kaiserberge an. Meine Freundin entschied sich für die 25 Kilometer-Zwei-Berge-Tour und ab sofort flitzen wir im Training über Hügel und die Kurznachrichten hin und her. Wir trieben alles auf, was wir über die Alb und den Lauf herausfinden konnten. Das war nicht so ganz viel, die meisten Berichte waren viele Jahre alt, denn immerhin existiert diese Veranstaltung schon 33 Jahre. Zumindest das respektable Höhenprofil ließ sich auf der Website finden und die zugehörigen Cut offs machten deutlich, dass man als Wanderer nicht rechtzeitig ans Ziel kam. Wir mussten schon rennen, Hügel hin oder her. Wettertechnisch konnte Ende Oktober natürlich alles möglich sein, es gab sogar einen Bericht von Schneegestöber. Dass es keine Fotos von Regentouren gab, lag vielleicht eher an der mangelnden Fähigkeit von Kameras, als an durchgehend sonnigen Veranstaltungen. Das vermuteten wir zumindest, als wir am Vortag des Rennens, mit dickem Pullover und Cappuccino im Café froren, während Regen und Wind gegen die Fensterscheiben trommelte. Wie sollte sich das anderntags auf 700 m Höhe anfühlen?

Petrus hatte aber ein Einsehen, wahrscheinlich hat das Tourismusbüro mit ihm gesprochen. Pünktlich zum Start sah Schwäbisch Gmünd plötzlich aus wie auf den Hochglanz-Prospekten. Meine Freundin beschränkte sich deshalb auf die allernotwendigsten Kleidungsschichten, während ich mit langer Hose und Handschuhen antrat, Jacke und Stirnband im Rucksack. Auf dem Startfoto sieht das dann ein bisschen so aus, als wollte sie in die Wüste und ich zum Nordpol. So ist das eben beim Laufen, jeder hat sein eigenes Rennen. Und auf einer 50 Kilometerstrecke kann sich das Wetter auch x-Mal drehen. Das ist doch das, was ich bei den Ultraläufen so liebe, dass ich so lange draußen unterwegs bin, dass es eben keine Vorhersagen gibt für alles. Ein kleiner Rucksack macht mich dann weitgehend unabhängig. Das war auch in diesem Fall gut, weil eigentlich niemand so richtig wusste, wann, wo und wieviel Verpflegung es geben würde. Es gab Berichte von Haferflockensuppe (meine Leib- und Magenspeise, die aber leider unmodern geworden ist), von Salzbrezeln und im Internet stand, dass es erst bei Kilometer 12 das erste Mal Verpflegung geben würde. Also so wie das in den Bergen eben ist, man muss sich auf diese und jene Gegebenheiten einstellen. Tatsächlich erhielten wir dann schon bei Kilometer sieben zum ersten Mal etwas zu trinken und dann immer so im Abstand von etwa fünf bis acht Kilometern. Dazu wurden Müsliriegel kredenzt und Salzbrezeln und zwei Mal köstlicher Hefezopf. Ich musste meine Wasserflasche immer nur den lieben Helfern anreichen und bekam sie in Nullkommanix aufgefüllt, so dass ich mit dem genialen Gefühl eine Albprinzessin zu sein, weiter lief. Die Landschaft zeigte sich von bester Seite, malerische Wolken, blauer Himmel, weite Sicht über grüne Hügel , die Temperaturen zwischen 12 und 15 Grad, manchmal wehte ein ordentlicher Wind, aber am Schluss schob der auch nur noch von hinten.

Der Streckenaufbau bot für mich alles, was ich liebe: Erst drei Gipfel und am Schluss, ich konnte es kaum glauben, eine Trasse. Das ist für mich gleichbedeutend mit einem Stück Heimat (siehe „Trasse ist Klasse“, Egoth Verlag). Als wir dann etwa bei Kilometer 40 zum wiederholten Mal über eine steile Wiese abwärts holperten, murmelte ich deshalb „Wann kommt nur endlich die Trasse auf die ich mich so freue?!“ Da wurde eine Mitläuferin hellhörig: „Das meinst du doch hoffentlich ironisch?!“ Die Trasse sei nämlich sehr „zach“, was auf nicht-schwäbisch zäh bedeutet. Wahrend diese Läuferin mich auf der Wiese locker trabend hinter sich ließ, holte ich sie dann auf dem Trassenstück wieder ein. Während ich an ihr vorbei zog, brummte sie skeptisch: „Ist das jetzt schön?“ Meine Antwort war ein klares Ja! Dieser Trassenabschnitt führt in einem minimalen Gefälle auf holperfreiem Radweg geradeaus, links und rechts ist es grün oder herbstbunt, man muss sich nicht mehr so konzentrieren und die Beine wissen, was sie zu tun haben. Meine jedenfalls. Es war wunderbar.

Bis dahin waren aber doch einige Abenteuer zu bestehen. Der erste Gipfel war ein netter Aussichtspunkt, der zweite war Treffpunkt mit meiner Freundin und ich noch frisch und munter. Genau wie vorhergesagt, hatte ich knapp über drei Stunden bis zur Halbzeit gebraucht. Als Zielzeit prognostizierte ich 6 Stunden 30 Minuten und als ich nach 6:28:17 meiner Freundin letztlich in die Arme kippte, war ich aus vielen Gründen glücklich, aber auch, weil ich mich so genau eingeschätzt hatte. Man lernt sich eben kennen mit den Jahren.

Nach dem zweiten kam aber erstmal der dritte Gipfel und auf dem Weg dorthin die schönste Wegstrecke überhaupt. Der sogenannte Ho Chi Min- Pfad. Das kleine Schild mit dem vietnamesischen Namen, erzeugte schon erstmal eine Gänsehaut bei mir, schließlich stammt die Bezeichnung aus dem Indochinakrieg. Allerdings war dieses Wegenetz damals eine rettende Verbindung von Nord nach Süd, das machte Hoffnung. Der Pfad führte wurzelig und mit goldenem Laub übersät am Hang entlang und mit bester Fernsicht. Zu diesem Zeitpunkt war ich völlig allein unterwegs, wenn man von dem Einhorn absieht. Am Vortag hatten wir nämlich gelernt, dass das Einhorn das Wappentier von Schwäbisch Gmünd ist und daraufhin hatte ich beschlossen, mir so ein kleines mentales Fabelwesen mit auf die Strecke zu nehmen, das mich dann über jeden Tiefpunkt tragen sollte. Am Ende des Pfades flog das Fabelwesen mit mir über eine rutschige Wiese bergauf und gerade als ich einen Mitläufer bitten wollte, Gipfelkreuz für mich zu spielen, tauchte ein wahrhaftiges Kreuz auf. Ein Waldarbeiter bot sich als Fotograf an und es war ein ganz und gar magischer Augenblick. Die Welt lag mir zu Füßen, die drei Cut Offs hatte ich kurz nach dem Gipfelkreuz mit passablem Zeitpuffer passiert und das Wetter war immer noch gut.

Aber ein Ultra wäre kein Ultra, wenn er an der euphorischen Stelle schon zu Ende wäre. Es galt noch 18 Kilometer zu bewältigen, was nicht so viel klingt, wenn man nicht weiß, dass es in die Hölle geht. Zunächst trabte ich fröhlich lächelnd bei bester Alb-Aussicht leicht ansteigend auf meinem Einhorn dahin und dann stand plötzlich eine blonde Teufelsbraut an einem unscheinbaren Abzweig und lächelte: „Dort hinunter!“ Sie sagte zurecht nicht dort „entlang“ sondern dort „hinunter“, denn im Grunde hätten wir uns auch abseilen können. Das Einhorn sagte: „Ich warte Mal lieber hier oben!“ und ich stolperte über einen steilen Asphaltweg an den tiefsten Punkt der Welt. Höllenhunde bissen in meine Oberschenkel und da unten war nichts außer ein Tiefpunkt. Und der nächste Aufstieg. Nachdem wir Alb-Umrunder uns über einen ebenso steilen Wiesenpfad wieder nach oben gekämpft hatten, kamen wir erneut an der Teufelsbraut vorbei und mussten feststellen, dass wir keinen einzigen Meter voran gekommen waren auf unserer Kaiserbergrunde. Nur einmal Hölle und zurück. Immerhin, als Belohnung für die Höllenrunde gab es noch einmal Hefezopf. Und den nächsten Anstieg. Bergauf verfiel ich immer in flotten Wanderrhythmus und fand das bis zuletzt entspannend. Immerhin habe ich die Strecke mit einem Durchschnittspuls von 137 bewältigt. Bergab aber konnte ich die Höllenhunde nicht mehr abschütteln und sie hatten noch reichlich Gelegenheit zu kläffen. Das, was nämlich auf dem Höhenprofil wie ein kleines letztes Aufbäumen der Kaiserberge aussieht, stellte sich als kurze, aber ordentlich steile Rampen dar, die ich weder ab- noch aufwärts wirklich laufen konnte. So wuchs die Vorfreude auf die Trasse ins Unendliche. Zwischendrin genoss ich trotzdem den Blick und immer, wenn ich jammerte, kam das Einhorn geflogen und flüsterte: Du bist auf der Schwäbischen Alb, das hast du dir doch so lange gewünscht. Das war auch gut, dass ich mein Einhorn hatte, auch über Bussarde, einen Reiher und ein paar Kühe und Ziegen konnte ich mich freuen, menschliche Wesen waren abgesehen von den Marathonis eher die Ausnahme. Und selbst die verteilten sich zuletzt so, dass mein Einhorn und ich ziemlich allein unterwegs waren. Allerdings hatte ich gleich am Anfang des Rennens einen „Frank“ vor mir und da wusste ich schon: Alles wird gut, denn mit Franks erlebt man immer die besten Geschichten (siehe meine Bücher)
Am Schluss war jedenfalls alles gut, ich kam gerade rechtzeitig, um nach einem Kaffee noch aufs Treppchen gerufen zu werden und die Goldmedaille für den ersten Altersklassen- Platz entgegen zu nehmen. In meiner Ak ist die Konkurrenz übersichtlich und ich bin dankbar für alle Ü60, die noch mit mir antreten und zeigen, dass die läuferische Weltbesichtigung in jeder Lebensphase glücklich macht.

Meine Freundin hatte unterdessen ihre AK bei den 25 km mit deutlich mehr Konkurrenz und mit ordentlichem Vorsprung gewonnen. So waren wir nach der Dusche bereit für die after race Party, die wir dann allerdings frühzeitig ins Traumland verlegten. Regeneration ist schließlich wichtig.

Tags darauf durften wir dank Zeitumstellung länger schlafen als wir konnten und nach einem gemütlichen Frühstück ging es für mich mit der Bahn zurück Richtung Ruhrpott. Wegen der üblichen Bahnkatastrophen (Polizeieinsatz, Feuerwehr, Notarzt, Streckensperrung) musste ich dann zwischenzeitlich mit meinen drei Taschen über 40 Stufen sprinten und eine Bahnhofsumrundung rennen, um den Anschluss zu bekommen, was mir trotz der Höllenhunde gelungen ist. Ich bin sicher in den nächsten Tagen zähme ich die Tierchen vollends und dann sitzen sie ganz freundlich im Körbchen und lechzen nach dem nächsten Abenteuer.