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Die Ost-Nordsee-Story

Die Ost-Nordsee-Story

„Hast du Lust von Rügen zur Nordsee zu radeln?“

„Ok, wann?“

Ich gab den Termin durch und damit war alles klar. Wir hatten noch sieben Monate Zeit bis zum Start, deswegen haben wir dann noch zwei oder drei Kurznachrichten ausgetauscht. Mit Freunden, die man seit 40 Jahren kennt, geht sowas. H ist zwar kein Frank (=Vereinskollege), aber so ähnlich. Früher hingen wir zusammen am Totenkirchl in den Felsen oder stapften mit Steigeisen über diverse Gletscher, später radelten wir an der Mosel und dass am dritten Tag der Tour mein Rad auseinanderfiel war bedeutungslos, weil wir uns auch in einer Kneipe gut unterhalten konnten. Dass H in Basel wohnt und ich in Bochum, ist eigentlich kein Hindernis, auch wenn die Bahn immer alles versucht, um uns davon zu überzeugen, dass die Entfernung unüberbrückbar sei.

Diesmal also Rügen.

Ich schwamm zunächst von der Naturschutz-Insel Vilm nach Lauterbach, während H den Kreidefelsen suchte, aber nur See-Nebel fand. Danach überlegten wir so allmählich unsere Radtouren-Route. Was wir abends entschieden, verwarfen wir am nächsten Morgen, wenn irgendwo ein schönerer Weg lockte, wir hatten schließlich fünf Tage Zeit.

Unsere erste Etappe begann in Putbus. Bis Stralsund fuhren wir im Nebel, eine faszinierend mystische Stimmung durch einsame Weiten (ich), feuchte Finsternis und die Radwege eher schlecht (H). In Stralsund gab es Sonne, Hafenstimmung und Waffeln mit Kirschen, das fanden wir dann beide gut. Weiter ging es Richtung Ostseeküste, immer schön mit Gegenwind. Da war es von Vorteil, dass wir zu zweit waren und ich den Windschatten von H genießen konnte, ansonsten hätte es sich für ihn bestimmt sinnloser angefühlt gegen den Wind zu kämpfen. Erster Übernachtungsort war Barth. Eigentlich wollten wir nach Zingst und hatten an die Jugendherberge gedacht. Die Preisgestaltung war aber derart geregelt, dass man in unserem Alter quasi für jedes Lebensjahr 10 Euro Zinsen und Gebühren zu zahlen gehabt hätte. Trotzdem wären wir nicht jünger geworden. Deswegen also Barth, wo wir sogar eine schnuckelige Wohnung weit günstiger bekamen, ohne an unser Alter erinnert zu werden. Stralsund, Kühlungsborn, Wismar, das sind alles klingende und bekannte Namen. Aber wer war schon in Barth? Ein richtig netter Ort und morgens beim Stadtbäcker hatten wir Frühstück mit Blick auf den Marktplatz, also auf zwei Blumenkästen und einen Brunnen. Ich aß eine Lerche und lernte, dass früher tatsächlich die Singvögel gebraten wurden. Zum Glück hat dann jemand erkannt, dass es besser ist, die Vögel singen zu lassen und stattdessen diesen Marzipankuchen erfunden. Es ist also eine Tierschutz-Delikatesse.

Die nächste Etappe fuhren wir auf dem Ostsee-Radweg, der vielfach wohl eine schöne Aussicht bietet. Ich musste mich beim Radeln aber auf den Weg konzentrieren, denn von Wurzeln über Schlaglöcher bis zu Sandkuhlen war alles geboten. In Zingst sprangen wir noch einmal in die Ostsee, das heißt H watete meterweit durch das flache und kalte Wasser, während ich das Gepäck bewachte und dabei den Mücken als willkommene Abwechslung im Speiseplan diente. In Ahrenshoop freute ich mich, das Künstlerhaus Lukas zu sehen und neben dem Wind blieb uns auch die Sonne treu.

Etappenziel 2 war Kühlungsborn. H hatte dort ein günstiges Hotel aufgetrieben, das offensichtlich vor allem bei der Generation Ü 90 beliebt war, jedenfalls gab es ein paar Besonderheiten und auch das Frühstück wirkte ein bisschen wie vorgekaut. Apropos, als wir anreisten und H an der Rezeption unsere online vorgenommene Buchung bestätigen wollte, wurde er mit den Worten „nur Frühstück“ begrüßt. H war irritiert, denn wir wollten keinesfalls nur frühstücken, sondern vor allem übernachten.

„Vielleicht habe ich das falsche Datum gebucht?“, mutmaßte H selbstkritisch, als der Rezeptionist sein „nur Frühstück“ mehrfach wiederholte. Wie sich herausstellte, lag aber nur ein kleines Sprachproblem vor, die meisten buchten Halbpension und dem nicht so sprachkundigen Rezeptionisten eilte dann eine freundliche Dame zu Hilfe, die das Missverständnis aufklärte.

Der eigentliche Vorteil an diesem Seniorenhotel war, dass es direkt am Strand lag und wir somit problemlos unsere Rad- gegen die Badehose tauschen konnten, um uns in den Seetang der Ostsee zu wickeln. Nach Betrachtung der einschlägigen Lokale im Umfeld unseres Quartiers beschlossen wir uns im Supermarkt einen Salat zu kaufen und diesen auf unserer Terrasse mit Parkplatz-Blick zu verzehren. Der Ort hatte ein wenig den Charakter von Disneyland, das muss man halt mögen.

Am nächsten Morgen konnten wir den Tag jedenfalls mit einem Ostseebad beginnen und dann ging es weiter bei blauem Himmel entlang weitläufiger Wiesen und Felder. Im Durchschnitt war es flach und wir lernten, was die theoretische Mathematik mit der Wirklichkeit zu tun hat: Der Radweg führte permanent hügelauf hügelab.

Zusätzlich blies der Wind von vorne. Den konnten wir aber mit der Zeit mental weg atmen, so dass wir das Wackeln der Bäume oder Windräder brauchten, um den Luftzug zu lokalisieren. Man gewöhnt sich eben.
In Wismar holperten wir über das Kopfsteinpflaster, lockere Zähne darf man da nicht haben und ich genoss Sanddorn-Eis, während H eine Dose Fisch aus dem Supermarkt köpfte. Im Hafen muss man eben Fisch essen, ganz stilecht.
Weiter wollten wir Richtung Elbe, die Quartiersuche führte uns nach Gadebusch. Der Gasthof hatte eine Sonnenterrasse, üppigen Pflanzenwuchs im verglasten Treppenaufgang und eine Vitrine mit Pistole im Flur. Die Waffe war allerdings nicht dazu gedacht, zahlungsunwillige Gäste ins Jenseits zu befördern, sondern ein Relikt, das an die Schlacht von Gadebusch 1712 erinnern sollte, in der die Schweden gegen dänisch-sächsische Truppen gewannen.

H hatte im geschichtsträchtigen Gadebusch auf seinem Smartphone gleich eine Restaurant-Meile ausgemacht. Also rollten wir auf unseren Zweirädern ohne Gepäcktaschen frohgemut mit hungrigen Mägen zum Abendessen. Viele schmucke Backsteinhäuser bestimmen dort das Stadtbild, Menschen trafen wir keine. Ein „Pizza to go“ Schild blinkte neben einer verschmierten Glasscheibe, der Besitzer saß tatenlos davor, vielleicht war auch die Pizza schon gegangen.
„Immerhin“, murmelte ich angesichts der Imbissbude und dachte, dass ich zum Glück noch ein paar Müsliriegel im Gepäck hatte. Die anderen ehemaligen Restaurants waren vielleicht schon in der Schwedenschlacht verloren gegangen. Zögernd nahmen wir noch die nächste Ecke in Augenschein, dort hing an einer bröckeligen Hauswand eine verlockende Speisekarte. „Vielleicht gibt es ja einen Garten“, meinte H verträumt und – simmsalabimm - stand im nächsten Moment der Gaststättenbesitzer an der Tür und lud uns samt Fahrrädern auf die wunderschöne Terrasse ein. Das Essensangebot war auch für mich als Vegetarierin voller Köstlichkeiten und dazu gab es Geschichten von dem halb-italienischen, halb-ägyptischen Küchenchef, der an diesem verlassenen Ort ein Kleinod geschaffen hatte.

Auch in unserer Unterkunft erlebten wir noch eine Überraschung. Da thronte nebst der Pistole noch ein Kühlschrank im Gang vor den Zimmern. Ein blaues Schild leuchtete auf der Vorderseite: “Zur freien Verfügung für Hotelgäste“. Vorsichtig öffneten wir die Tür und blickten auf zehn Bierflaschen. Hs Augen leuchteten. Wir sahen uns verwundert an, konnte das sein, dass die Gäste hier mit Hopfensaft in Hülle und Fülle versorgt wurden? Wir studierten noch einmal den Aufkleber, „Benutzung auf eigene Verantwortung“, stand kleingedruckt in der zweiten Zeile. Bei zehn Flaschen Bier und zwei Hotelgästen, mehr waren uns jedenfalls nicht begegnet, konnte das schließlich schon riskant sein. Da ich derlei Gebräu gar nichts abgewinnen kann, blieben H zehn Flaschen und der verantwortungsvolle Gebrauch war um so wichtiger, wenn ich nicht allein weiter radeln wollten. Wir öffneten den Delikatessenschrank ein weiteres Mal und sahen nun neben den Flaschen auch eine angebrochene Ketchup-Tube, und einen etwas in die Jahre gekommenen Margarine-Behälter.

„Ok, man könnte sich also auch Ketchup nehmen statt Bier“, stellte ich etwas irritiert fest und im nächsten Moment fiel bei uns beiden der Groschen. Der Kühlschrank, nicht sein Inhalt, stand zur freien Verfügung. Wir konnten also unseren angeschmolzenen Käse und die lauwarme Apfelschorle dort für den nächsten Tag vorkühlen.

Das war auch gut so, denn es erwarteten uns anderntags viel Sonnenschein und wenig Lokale: Das Biosphärenreservat rings um den 24 Quadratkilometer großen Schaalsee. Diese Strecke schlug mich ganz in ihren Bann, in leichten Hügeln wand sich die kaum befahrene Straße durch endlose Alleen und H meinte „Das ist wie Wellenreiten.“ Sehr passend, in Vilm war ich in die Ostsee gestiegen und jetzt ritt ich auf Zarrentins Wellen weiter. Ich war berauscht vom Grün in allen Schattierungen und H freute sich auf das Bier am Abend, so hatten wir jeder unser kleines Glück.

Unsere Etappen umfassten immer 80 bis 100 Kilometer. So ungefähr. Ich habe zwar eine Sport-Uhr und einen Tacho am Fahrrad, aber diese Geräte haben stets andere Werte gemessen als die von H und waren also falsch. Das kenne ich schon von meinen Franks, männliche Tachos sind aus irgendeinem Grund immer genauer.

Aber egal, welche Zahl ich in mein Tagebuch notierte, unsere Beine wussten sehr wohl, was sie getan hatten. Als H nach dem Abendessen einmal mit leisem Stöhnen aufstand, fragte ich besorgt: „Was tut dir denn weh?“ und er antwortete nach kurzem Zögern mit charmantem Lächeln „Alles!“ Man darf das nicht unterschätzen, schließlich benutzen wir beim Radfahren nicht nur die Beinmuskeln, sondern spüren auch wie der mehr oder weniger gepolsterte Sattel sich in unsere Sitzmuskeln bohrt, während wir den Rücken beugen als würden wir stundenlang Pilze sammeln.

Dennoch hatte sich bis zum nächsten Morgen stets alles wieder zurecht geruckelt und wir konnten weiter neue Eindrücke sammeln und die Abwesenheit der Stadtgeräusche genießen. Was keinesfalls bedeutet, dass es still ist. Vögel mit ihrem Gezwitscher konkurrierten mit Landmaschinen, die über die Felder brummten und anderen motorisierten Gefährten. Abgesehen davon sauste der Wind in den Ohren, so dass wir unterwegs unsere Kommunikation auf „Ich muss mal“ oder „Fotostopp“ beschränkten. Ich lernte, dass Basedow nicht nur eine Krankheit ist, sondern auch ein Ort und dass „an der Elbe fahren“ bedeutet kilometerlang auf einen grünen Buckel zu sehen hinter dem man das Wasser vermutet.

Nachdem wir in Lauenburg an der Elbe die urige Altstadt besichtigt hatten, bezogen wir unser letztes Quartier in Marschacht mit Aussicht auf ein Bestattungsinstitut. Es gab aber zum Glück keine Fliegenpilze zum Abendessen und so erwachten wir erneut bei blauem Himmel. Hs Urlaub war zu Ende und er rollte die letzten 50 Kilometer gen Hamburger Bahnhof, in der Hoffnung, dort würde ein Zug nach Basel fahren. Korrekt war, dass er dort startete und sich dann mit Menschen und Bäumen auf Schienen über Stunden allmählich der Schweiz entgegen schob.

Ich hatte es leichter und eine letzte Etappe von 140 Kilometern Richtung Nordsee vor mir. Zunächst schön an der Elbe entlang bis mich ein Umleitungsschild darauf hinwies, dass das Sperrwerk gesperrt war. So ist das, wenn man am Wasser unterwegs ist. So kam ich nach Winsen Luhe, dann weiter über die schwarzen Berge, das Seevetal und Buxtehude nach Stade, wo ich mich in der Altstadt unter die Touristen mischte. Da ich alle Einkäufe anschließend in meinen Packtaschen verstauen musste, konnte ich nur ein Glas Marmelade kaufen. Das ist der Nachteil des Reiseradelns oder vielleicht ist es auch ein Vorteil, Konsum beschränkt sich vor allem auf schnell verdauliche Dinge.

Die letzten 60 Kilometer führten mich an der romantischen Oste entlang, mit Schäfchen- und Deichblick und bei Kilometer 584 der Reise stand ich beim Liebsten vor der Haustür, pünktlich zum Abendessen, das er noch nicht vorbereitet hatte.

Nach zwei Ruhetagen krönte dann der Otterndorfer Triathlon den Abschluss des Urlaubs. Gegen den Wind radeln war ich ja nun gewöhnt, nur schien es mir etwas merkwürdig, dass ich nach 52 Schwimm-, Rad- und Laufkilometern wieder in Otterndorf war, statt am nächsten Etappenziel.

Aber das Wort reisen lässt sich wohl auf das urgermanische Wort risan zurückführen, was so viel bedeutet wie aufstehen, sich erheben. Und das habe ich getan, bin jeden Tag aus den Federn gestiegen und habe mich über müde Muskeln erhoben und gesagt: Die Welt ist schön, lass uns mal gucken!

VIGLi, 27. August 2023