Fünf Glückliche sind wir, die dieses Jahr noch einmal einen Monat im schönen Gartenhaus am Süderwall leben und schreiben dürfen. Das Stadtschreiber-Stipendium im Jubiläumsjahr der Stadt Otterndorf macht es möglich. Ines Burdow hatte ich in ihrer eindrucksvollen Lesung mit Theaterspiel erlebt und nun freute ich mich, dass Alexander Häusser gerade am Triathlon-Wochenende seine Abschlusslesung gab. Ein doppelter Grund, um nach Otterndorf zu fahren. Fast hätte die Bahn das Treffen verhindert, aber zuletzt war alles gut, wir kamen ins Gespräch und ich fuhr mit einem signierten Buch nach Hause. Hier meine Rezension:
Memory (Alexander Häusser, Pendragonverlag)
Eine Beerdigung, die ersten Liebesspiele, Lügen, die Angst vor Entdeckung. Autor Alexander Häusser lässt die Lebensgeschichte seines Protagonisten anhand von kurzen Episoden aus dessen Vergangenheit lebendig werden. Erinnerungen ergeben keine chronologische Geschichte, sondern sind einzelne Versatzstücke eines großen Mosaiks. Was emotional berührt hat, bleibt im Gedächtnis, die Zusammenhänge gehen mitunter verloren. So wird der Lesende in ein Kaleidoskop von Ereignissen aus unterschiedlicher Zeitebene gerissen.
Der 35jährige Ich-Erzähler entfaltet seine Lebensgeschichte während einer Therapie, die er beginnt, um seinen extremen Erschöpfungssymptomen auf die Spur zu kommen. Eine Viruserkrankung als mögliche Ursache wird diskutiert. Spannend, da der Roman lange vor der Corona-Pandemie entstanden ist, die nun mit dem Post-COVID Syndrom zahlreiche Betroffene genau in diese Situation bringt: Erschöpft zu sein, ohne dass die Medizin die Ursache klar festlegen kann.
Wie der Protagonist sich auf die Suche begibt, sein Leben gleichzeitig rückwärts und vorwärts geht und dabei Verknüpfungen aufdeckt – das liest sich ausgesprochen spannend. Häussers Erzählstimme entfaltet einen Sog, dem ich mich kaum entziehen konnte. Der früh verstorbene Vater, die psychisch kranke Schwester, die Armut. Was hat das Leben geprägt, wie wird man der, der man ist?, das sind die Fragen um die der Roman kreist.
Dabei platziert der Autor unprätentiös viele Sätze, die weit über die konkrete Geschichte hinausklingen:
„[Er]hat das Ende seiner Liebesgeschichte nicht erlebt. Deshalb wohl ist sie weitergegangen“/ „man muss die Geschichte nur kennen, dann wiederholt sie sich nicht“/ „die Zeit ging mit den Orten verloren und lässt sich durch die Orte wiederfinden!“/ „Alles hatten wir an dem Abend zusammengefügt, zu einer Familie, die man verlassen konnte“
Wer sich auf das Mäandrieren zwischen Vergangenheit und Gegenwart einlässt, kann sich in eine verschlungene Familiengeschichte entführen lassen und bekommt zudem Denkanstöße, wie manches über Generationen zusammenhängen könnte. Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Ein Buch, das Spielraum für die eigene Interpretation lässt. Memory ist die Einladung, in das Mikado einer Biografie einzutauchen. Wie auch immer die Stäbe des Lebens geworfen wurden, sie rühren aneinander und jede Veränderung ändert auch das Ganze. „Man muss sich mit dem abfinden, was man hat“, sagen verschiedene Personen in dem Roman. Aber was haben wir? Was hat sich unbemerkt in uns eintätowiert?
Eine Spurensuche, die ich auf einer vierstündigen Bahnfahrt verschlungen habe.
VIGLi, 5.9.2025