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Ein Tag im Wald

Ein Tag im Wald

„Lass es raus, das sind Emotionen pur!“, sagt die Moderatorin, die mir eigentlich nur freundlich zum zweiten Platz in der Altersklasse gratulieren will. Ich kann aber gerade die ganze Welt umarmen und stellvertretend falle ich ihr und dem Bratwurstkönig Nobert um den Hals, der mir die Urkunde überreicht. Die Freudentränen fließen. Ich habe es geschafft, bin den lang ersehnten „Trail mit Herz“ mit seinen 2500 Höhenmetern und 65 km gelaufen.

Zum Vergleich: Von Garmisch auf die Zugspitze sind es etwa 2200 Höhenmeter. Oder man stelle sich 312 Deiche vor, die mit Wurzeln und Geröll gespickt sind. Oder man fährt einfach dorthin, zu den Riesen und Wichteln, die da in einem unendlichen Wald wohnen, und guckt sich diese urtümliche Gegend an. Vier Tage hatte ich für mein Abenteuer und in der kurzen Zeit habe ich Suhl und seine Umgebung intensiv kennengelernt. Schon die Anfahrt zum Lauf vom Hotel aus, war ein Ereignis. Acht Kilometer mit dem Fahrrad durch den unbeleuchteten Wald, Dunkelheit, leises Knacken der Äste, irgendwo zwischen den Zweigen über mir der Mond.

5 Uhr morgens, 8 Grad kühl, endlich der ersehnte Startschuss. Die Karawane aus blinkenden Stirnlampen setzt sich in Bewegung. Es dauert nicht lange, da geht es steil bergauf, die Wegmarkierungen fluoreszieren, ich freue mich, wie gut ich den Weg im Kegel der Stirnlampe sehen kann. Nicht mehr natürlich, nur diesen Fleck vor den Füßen. Steine, Moos, Wiese, Wurzeln. Dann die Dämmerung, Blick ins Tal, die Häuser noch erleuchtet, wir sind schon hoch, alles sieht aus wie mit Bleistift gezeichnet. Plaudern hier, plaudern da, schnaufen, sich konzentrieren. 9 Stunden Zeit bis zum Cut off für 48 km. Was im Flachland unproblematisch wäre, ist hier auf der sogenannten Riesenrunde kaum einzuschätzen. Wir kraxeln bergauf und rollen mehr oder weniger elastisch über schwarze Skipisten nach unten.

Alle 8 bis 16 km gibt es Schmalzbrot und Würste, aber zum Glück auch Obst und Käsewürfel für weniger thüringisch erprobte Mägen. Ich treffe einen Bekannten, mit dem ich vor zehn Jahren durch die Heide gelaufen bin, Begrüßung, erzählen, dann tauchen wir wieder ab in das Universum der Riesen und Wichtel. Weltenwechsel. 45 Minuten vor dem Cut off habe ich die 48 km eingesackt und breche mit stolz geschwellter Brust zu den folgenden 17 km auf, dem sogenannten Wichteltrail. Wer Riesen- und Wichteltrail läuft, hat den sogenannten Heldentrail bezwungen. Unterwegs necken wir uns damit: „Bist du eine Riese?“ „Nein, eine Heldenanwärterin.“

Die letzten Kilometer wird es nicht leichter, manchmal brauche ich beim Aufstieg die Hände, beim Abstieg nützen mir die Trail-Stöcke. Um uns herum Nadelbäume, Büsche, Sand, Wurzeln, es geht immer nur aufwärts, ich träume von einer Cola und denke doch, das wird nichts mehr, einfach durchhalten. Dann taucht die Verpflegungsstation mitten im Wald auf, es gibt Cola, Äpfel, Salzstangen. Noch zehn Kilometer. Aber was heißt das schon bei den Wichteln, bergauf, bergab, glitschige Stufen, Morast, die letzten Kilometer bin ich ganz allein, konzentriere mich auf die Wegmarkierungen, nicht stürzen, nicht verlaufen jetzt.

Die letzten 500 Meter Asphalt, ich höre schon die Zielmusik, die Freudentränen beginnen zu rollen, ich habe tatsächlich Energie für einen Zielsprint, ich lache, ich heule, umarme jeden, nehme die Medaille entgegen, ein Stück Holz, mein Goldklumpen der Erinnerung, etwas zum Anfassen, wo es doch so unbegreiflich ist, dass ich diese Strecke gelaufen bin, mit 64 Jahren. 23 Minuten vor dem Zeitlimit im Ziel. 11:37 Stunden. Ein Tag im Wald, Suhler Balkon, Schneekopf, Domberg, Teufelskanzel, Gipfelwind, Holzgeruch. Eine Reise durch Thüringen, eine Reise zum Ich.

14.9.2025